Anfang Mai ist Reisezeit in der deutschen Digitalbranche. Abwesenheitsassistent an, ab in den Zug. Innerdeutsch fliegt man ja nicht. Die eine Hälfte der Wissensarbeiter ist in Berlin auf der re:publica 2019. Die andere Hälfte bei den Online Marketing Rockstars in Hamburg. Manche machen sogar den kurzen Sprung am Dienstag zur anderen Konferenz. Die Kollision ist wirklich unglücklich, aber ich stelle mir die Grenze bei der Entscheidungsfindung so vor:
- Ich will alles über die neuesten Taktiken bei der Aussteuerung von Online-Kampagnen wissen – dann gehe ich zur OMR.
- Ich will etwas wissen über die Strategie der Plattformen, was diese antreibt, welches Weltbild ihre Strategie informiert – dann muss ich zur re:publica 2019.
Ich habe mich für die zweite Variante entschieden. Oder um ein Bild von Bertram Gugel, @digitalerfilm, auszuleihen: Bei der #rp19 gibt es die rote Pille, bei OMR die blaue Pille. 💊
Ich bin nicht der einzige, der die Unterschiede zwischen den beiden Events sieht. Auch der große Walrossbart der deutschen Medien- und Media-Szene sieht es so:
Was heißt das? Die OMR bringt Werkstattberichte von der Front; sie zelebriert das Digitale. Alles neu, so shiny, huch!
Die re:publica sagt tl;dr
Die Macherinnen der re:publica legen Wert auch auf Grundlagenarbeit. Ein Apple-Mitarbeiter erzählt, wie die Kartenservices gemacht werden – ein Bericht aus der Wurstfabrik, sozusagen. Eine Forscherin erzählt von ihrer Untersuchung über die Arbeitsbedingungen der Uber-Fahrerinnen. Ein Soziologe erläutert seine Sicht auf das Weltbild des Silicon Valleys. Eine österreichische Politikerin erzählt von ihren Hate-Speech-Erfahrungen im Netz (am Beispiel eines publicityträchtigen Prozesses).
Das ist nicht immer TED-Talk-fähig, und doch wird es auf der größten Bühne (wo 1200 Menschen gleichzeitig zuhören können) programmiert. Weil es wichtig ist.
Das Nicht-TED-Talk-hafte auf der re:publica 2019
Das beste Beispiel für einen Nicht-TED-Talk bei der rp19? Forscherin Alex Rosenblat hat vier Jahre lang im Umfeld von Uber und seinen Fahrerinnen recherchiert. (Rosenblat macht das für das von danah boyd geleitete Forschungsinstitut Data and Society.)
Sie hat eine Fülle von Fakten recherchiert, die das Bild des algorithmisch optimierten Börsenkandidaten (IPO diese Woche) schwer ankratzen. (Falls das uber-haupt noch geht. Sexskandale, übergriffiger Ex-CEO, der nicht von seiner Macht lassen konnte und und und.)
Uber argumentiert, dass es keine Mobilitätsfirma sei, sondern ein Technologie-Unternehmen. Und in den USA kommt das Unternehmen damit durch. Die Fahrerinnen werden als Selbstständige gesehen, die oft nur mit einem gesichtslosen Mail-System kommunizieren, wenn es Probleme gibt. Davon erzählt sie, mit Hilfe von zwei Manuskripten, komplett ohne Folien.
Erst durch den Austausch in Onlineforen können die betroffenen Fahrerinnen für sich die Transparenz herstellen, wie das Geschäftsgebaren ihres Nicht-Arbeitgebers. Die Ironie ist frappierend: Das Internet macht das Geschäftsmodell möglich macht Austausch der weltweit verstreuten Fahrenden möglich. Keiner hält Uber mehr für eine ethisch gefestigte Firma, das war eh klar. Aber das Maß, indem mit Mitarbeiterrechten experimentiert wird, hat mich doch überrascht. Es ist ein Tauchen tief unter die Oberfläche, an den Grund des Eisbergs.
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Darüber hat Rosenblat auch ein Buch geschrieben: Uberland (Affiliate-Link).
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Aber woher kommt dieser unverbrüchliche Glauben ans Voran, ans Vorwärtsstürmen? Die beste Erklärung dafür, die ich je gehört habe, liefert der Basler Universitätsprofessor Oliver Nachtwey. Auch wenn mich seine Vortragsart arg ans Seminar erinnert hat, was er selbst auch weiß (er selbst entschuldigte sich dafür, nicht in TED-Talk-Manier auftreten zu können. Und ja, er meinte wohl Sigi Maurer und Sascha Lobo, die am Vorabend die Stage 1 rockten).
Er vergleicht das Gedankengebäude des Valleys mit der protestantischen Ethik von Max Weber. Wie der Reichtum den guten Calvinisten auswies, ist der Geschäftserfolg heutzutage danach ein Zeichen für die moralische Überlegenheit einer Firma oder eines Geschäftsmodells. Klingt weit hergeholt, aber mit den Verweisen auf die Heilsgestalt von Steve Jobs, dessen Gerede von Magie oder Auto-Magie; mit den Gedanken zur kommenden Singularität von Google-Vordenker Ray Kurzweil bekommt auf einmal die Welt der Tech-CEOs verständlichere Gestalt. Auch wenn einige Tach-Millionäre vom ewigen Leben träumen, vermittelt durch Zukunftstechnik – was ist das, wenn nicht ein Verweis auf die Transzendenz. Absolute Empfehlung, sich auch das Transkript anzusehen.
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Wie jedes Festival hat auch die re:publica seine ihre üblichen Verdächtigen. Die Eckpfeiler der Konferenz. Markus Beckedahl stritt sich zum Thema Artikel 13 mit Axel Voss (Kudos fürs Kommen). Punktsieg in dem Fall wohl für den Moderator. Die Session war zu voll, ich bin nicht mehr hinein gekommen. Und draußen, wo sie gestreamt wurde, war es mir zu kalt. Wenn ich mich in Berlin auf einem Festival erkälten will, kann ich ja gleich zur Berlinale fahren.
Der Rocker-Altstar auf der re:publica 2019
Sascha Lobo beschließt traditionell den ersten Tag mit einem fulminanten Arschtritt. Anders kann man seinen Frontalangriff auf eingefressene Vorstellungen und unsere Ohren nicht.
Wenn ich rocke meine, meine ich eben auch laut. Im Spätsommer hat er ein neues Buch, das ist bei mir hängen geblieben. Es wurde viel gelacht, und ja, auch style over substance, aber er hat die Netzgemeinde versammelt und aufgeladen. Sehenswert – mal sehen, ob sich das Transkript auch lesenswert gestaltet. Das Wort Cifo-Index möchte ich erst mal nicht hören.
Gunter Dueck ist seit 2011 auch einer der besonderen Redner auf der re:publica. Er bürstet gegen den Strich, der Ex-IBM-Manager und Professor. Seine Untersuchung führte tief ins menschliche Betriebssystem. Was läuft eigentlich in unserem Unterbewusstsein alles in Millisekunden ab, wenn wir jemanden sehen? Mag ich – ja/nein; kenn ich – ja/nein usw.
Sigi Maurer könnte hier direkt einhaken:
Sigi Maurer saß für die österreichischen Grünen im Parlament, und sie hat 2018 sehr öffentlich das durchgemacht, was jede Frau in der Öffentlichkeit kennt: Belästigt zu werden, und sich kaum wehren zu können. Na gut, das stimmt nicht ganz. Sie hatte einen starken Kreis von Freundinnen und die beste Anwältin, die Geld ihr kaufen konnte. Trotzdem hatte sie in der ersten Instanz verloren, obwohl der Richter davon überzeugt war, dass der Kläger gegen sie gelogen habe.
Wenn ihr nur einen Talk sehen wollt, dann lasst es diesen sein.
Maurer hat Antworten und konkrete Tipps, wie wir Männer mithelfen können, das Patriarchat abzuschaffen. Und das schreibe ich vollkommen ohne Ironie.
Und liebe re:publica-Macherinnen, es ist nicht ok, einem Vortragenden zu sagen, weniger Dialekt wäre besser. Diese Bevormundung ist nicht cool. 👏
Zurück zu Dueck. Er setzt auch an den kleinen Stößen von Glücksgefühlen an, die erkennbar von Signalen auf dem Smartphone ausgehen. Er hat Menschen nie so selig gesehen, wie wenn sie eine What’s App kriegen. Das hält halt nur zwei Sekunden. Was wiederum eine Querbeziehung aufmacht zum Eltern-Panel im Kühlhaus, das ich dort sehen konnte. Katja Seide setzte da uns die Sache mit der Ersatzbefriedigung auseinander, die der Griff für viele Erwachsene ist:
Lieber gleich das Video sehen, das kriege ich sicher nicht korrekt zitiert. Auf alle Fälle plädierten die Panelistinnen für mehr Interesse an dem, was unsere Kinder digital so tun (YouTube-Folge auch mal mitsehen; Spiel vorher spielen und auf Abo-Fallen und In-App-Purchases abklopfen) – und für mehr Medienkompetenz in beiden Generationen. Ja, das ist Arbeit, aber dann können Eltern auch lockerer damit umgehen.
Arbeit hat auch Bertram Gugel vor sich. Er ist Berater für digitale Medien und auch seit langem Stammgast der rp. Ich habe ihn schon auf einer winzigen Bühne in der Kalkscheune gesehen, gleich ums Eck vom Klo. Diesmal ist seine Zuhörerschaft ein Vielfaches größer, und seine Ansprüche auch: Er will nämlich den Plattformen eine VOD-Plattform aller Macher entgegensetzen. Die soll gemeinsam entwickelt werden und dann allen offen stehen, auch damit die Medienproduzentinnen nicht abhängig werden von der Plattform. Die blaue Pille aus Matrix wendet er dabei auf die Plattformwelt an (nicht nur die blaue, auch die rote). Klar, wer in der Illusion leben will und weiter virtuelle Steaks essen, der bleibt da. Aber echter ist es, wenn man die rote Pille schluckt.
Alle wurschteln nebeneinander an Player und so fürs Streaming herum, anstatt sich zusammenzutun. Ich bin einer der Wurschtelnden, ich kann ihm nur zu 100 Prozent zustimmen. Komplexes Thema, aber man muss das Rad Streaming nicht immer wieder neu erfinden. Komponentenbasiert ist das längst gelöst. Aber wer könnte das angehen? Wenn ich über die Super-Mediathek das Reden höre oder über 7TV joyn, dann denke ich: Puh, das ist aber aufwändig. Gugel hat dafür dieses Bild:
In der Medienbranche nennt man das Betreiben eigener Seiten, weg von den Plattformen, Owned & Operated Media – dort können Verlage und neue Medienunternehmen mehr Geld erlösen als auf den Plattformen, die anderen gehören. Dort ist immer eine Plattformsteuer fällig, die sich Revenue Share nennt. Das zu öffnen für Creators, finde ich eine wahnsinnig interessante Idee – auch wenn man sie für naiv halten könnte. Meldet euch an: https://www.gugelproductions.de/neu
Was noch bleibt von der re:publica 2019:
Die meisten Sessions sind inzwischen auch auf YouTube verfügbar. Nur zu, im Archiv finden sich auch Perlen von anderen Auflagen. Dueck geht immer, Snowden war auch ein großes Ding damals.
Das Gelände der re:publica gefällt mir wirklich gut, wenn man von den blöden Türen in das Gebäude absieht – die stauen das Publikum auf. Oder dem ersten Gang, entlang der Ostseite mit den Sälen 5, 6 und 7. Der müsste breiter sein. (Das gilt aber für alle Veranstaltungen in der Station, das war beim AWS Summit nicht anders.)
Der Food Court war wenig überzeugend, auch wenn es natürlich knorke war, dass man da auch ohne Bargeld zahlen konnte. (Und wie immer in Deutschland: ohne Bargeld zahlen dauerte länger, sogar mit den Tap-to-pay-Maestro-Karten.) Die Food Trucks waren für mich die bessere Alternative – auch weil man dabei ein bisschen U-Bahn-Rumpeln über einem Sonne genießen konnte.