„Hamilton“: deutschsprachige Inszenierung in Hamburg (Juni 2023)

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Musik
Von Midjourney generiertes Bild: Bühnensituation mit den beiden Figuren Alexander Hamilton und König George aus dem Musical Hamilton, gezeichnet im Stile eines Disney-Films namens "Vaiana", für den der Komponist des Musicals auch die Musik geschrieben hat

Warum ich unbedingt „Hamilton“ sehen wollte UND gut finden wollte, kann ich gar nicht sagen. Wahrscheinlich sind die Kinder dafür verantwortlich, sind sie das nicht immer? Die Male, die ich „Vaiana“ („Moana“) mit ihnen gesehen habe, kann ich gar nicht mehr zählen. Wahrscheinlich müsste ich nur in meine Historie bei Disney+ schauen. Oder noch besser – in die automatischen Spotify-Empfehlungen namens „Dein Mixtape 1″

Screenshot Spotify

Bildschirmfoto 2023 07 01 um 10 22 00

Lin-Manuel Miranda hat „You’re Welcome“/„Voll gerne“ Dwayne Johnson auf den Leib geschrieben. Ich glaube, das war das erste Mal, dass mich Mirandas Musik berührt hat.

Danach kam noch „Encanto“, ein weiterer Disney-Film. Auch den haben wir viel gesehen und gehört. Dabei hat er kolumbianische Musik und Strömungen der zeitgenössischen Musik gekreuzt und einen Hit geschrieben (Billboard-Charts-Platz 1). Einen Ohrwurm noch dazu. Aber Miranda kann auch die lyrischen, gefühligen Stellen gut – poppig, mit viel Schmelz und Schmalz.

Gesehen habe ich „Hamilton“ jetzt, und ich fand es sogar noch besser, als ich zu hoffen gewagt hätte. Mehr nach dem Klick.

Richtig legendär wurde Miranda aber mit der gefühlt immer ausverkauften Musical-Produktion „Hamilton“ am Broadway. Die gibt es seit einem Jahr auch auf Deutsch in Hamburg. Aber nur mehr ein paar Wochen. Die Nachfrage ist schwach. So füllen die Veranstalter die Reihen mit Schulklassen und Gewinnspiel-Gewinner*innen, damit das Haus nicht leer bleibt. Das ist eine Schande, wenn es auch keine Überraschung war – auch nicht für die an der Produktion Beteiligten.

Auch die Schauspieler hatten ihre Zweifel, ob das Musical funktionieren kann – so wie König der Löwen seit mehreren hundert Jahren auf der anderen Seite der Elbe. (Was heißt funktionieren? An Werktagen 1000 Karten für einen Durchschnittspreis von 100 Euro verkaufen und am Wochenende zwei Mal 1000. Elsa und Simba schaffen das, aber für Deutschland eher wenig bekannte IP – also Intellectual Property – wie Hamilton schafft das eigentlich nicht.)

Gino Emnes, der bei Hamilton als Aaron Burr eine unglaublich magnetische Präsenz hat, sagte dazu der deutschen Vogue:

„Tatsächlich war für mich eher die große Frage – und ist es immer noch ein bisschen –, ob Deutschland ready ist für diese Show.“ „Hamilton“ vor einigen Jahren erstmals in London zu sehen, habe ihn tief berührt. „Als queerer Man of Colour so viel Inklusion und Diversität zu sehen, zu sehen, dass verschiedene Leute auf der Bühne standen, die normalerweise nicht weiße Menschen und weiße Geschichte spielen, war für mich unfassbar emotional.“

Aus dem Vogue-Text

Wir waren wohl nicht ready. 😢 An Gino Emnes und seinen Kolleg*innen liegt es jedenfalls nicht. It’s ze Germans.

So eine tight produzierte Show wie „Hamilton“ sucht ihresgleichen. Die Sänger und Darsteller können alles: Spielen, Singen UND Tanzen. 21 Leute sind auf der Bühne, keiner fällt ab. Die, die vorrangig tanzen, haben eine tolle und tighte Körperlichkeit. Komödie ist Tragödie plus Timing, sagt man. Hier ist Tragödie da, Komödie – und Versmaß und Musik helfen beim Timing sicher auch.

Nicht mal für den Applaus zwischen den Szenen lässt die Show richtig Zeit. Das Ensemble ist toll eingespielt. Die Übung – sie machen das seit Monaten an fünf Tagen die Wochen – schlägt Stadttheater-Repertoire-Aufführungen leicht aus dem Feld.

Dabei ist der Anspruch hoch: Hamilton ist echt anstrengend, zwei Stunden 40 Minuten wird durchgesungen und durchgerappt. 144 Worte pro Minute haben andere Kritiker gezählt, mehr als 25.000 am ganzen Musical-Abend. Manchmal fühlt sich das Zuhören an wie Trinken aus dem Schlauch. (Bei Disney+ hatte ich definitiv die Untertitel an.) Auch die Form passt da zur Story.

Was ist die Story von „Hamilton“?

Ein Einwanderer kommt in die englischen nordamerikanischen Kolonien kurz vor Gründung der USA, mit nix in der Tasche – und trifft die richtigen Leute und schreibt an der Verfassung mit. Er heiratet, wird Minister unter seinem Mentor George Washington, prägt das Finanzsystem, und wird am Ende im Duell von einem seiner Freunde getötet. Klingt nach bisschen viel für ein Leben? Ja, aber es ist großteils so belegt, auch wenn Miranda natürlich auch nicht in allen Zimmern dabei war.

Spotify: In diesem Zimmer

Bei Disney+ (ja, ich nutze mein Abo) gibt es auch eine Aufzeichnung mit der Original-Broadway-Besetzung, die ich mal angefangen hatte – aber Theaterproduktionen auf dem Fernseher finde ich immer etwas steril. Allein dafür freue ich mich schon auf eine Apple Vision Pro Dolby Atmos-Brille. Und dennoch bleibt man immer dabei, es ist einfach die ganze Zeit Vollgas. Die Schulklasse, in der ich saß, war sichtbar und hörbar theaterunerfahren. Und sie haben doch an den Lippen gehangen, das Handy mit Brawl Stars blieb in der Tasche.

„Der König der Löwen“ ist zwar der Platzhirsch unter den Musical-Produktionen in der deutschen Musical-Hauptstadt – und auch einen Besuch wert. Aber „Hamilton“ ist kein bisschen schlechter, dabei wird sehr zurückhaltend mit dramaturgischen Möglichkeiten umgegangen. So gibt es ein paar geschickt choreographierte Läufe über Stufen und Treppen auf der Bühne, aber es bleibt der New Yorker-Stadtteil-Look mit roten Ziegeln die ganze Zeit. Die kleine Drehbühne wird magisch bespielt,

Gibt es denn gar nichts zu kritisieren?

Na, schon, aber auf extrem hohem Niveau. Ein paar der Sänger, leider auch der Titeldarsteller Benét Monteiro, sind keine Muttersprachler. Phonetisch klingt das echt gut, aber es ist so ein bisschen störend, wie amerikanische oder italienische Sänger*innen in „Die Zauberflöte“. Dafür kann er nix, und die Sprache, die im deutschen Hiphop gesprochen wird, ist manchmal auch so.

Getränke sind auch zu teuer für ein kulturfernes Publikum (Wasser 0,2l für 3,80 Euro). Und die Lautstärke sollte man auch vorher einplanen: wer empfindlich ist, sollte sich Ohropax einpacken – habe 93 Dezibel gemessen. Die 100 werden sicher erreicht, auch beim Jubel des Publikums.

5 von 5 Sternen Schuss. Dafür wird die Bühne gedreht, gewischt, beleuchtet – gerne wieder.

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