Die Musik von Tocotronic kommt aus dem Keller im Reihenhaus. Die erste Gitarre („Electric Guitar“), die ersten tollen Momente („langweiligste Landschaft der Welt“), in denen man die Welt umarmen möchte. Aber auch die Wut eines Teenager, sie ist immer noch zu hören und zu spüren, wenn der grau melierte, 47-jährige Dirk von Lowtzow singt:
Aber hier leben, nein danke!
Den Song widmet er Söder, dem neuen Ministerpräsident des Landes, in dem seine Band an diesem Abend auftritt. Mit bewundernswerter Unglaubwürdigkeit ruft von Lowtzow aus: „München ist unsere Lieblingsstadt!“ Ich bin mir nicht sicher, ob die hölzerne Art seiner Moderation nicht über das Schultheater-Stadium hinausgekommen ist, oder ob er sich damit auf einer Meta-Ebene über die Entertainer-Qualitäten, die ein Rock-Leadsänger dieser Tage (Live ist besser, nicht mehr digital) haben muss, lustig macht.
Was aber bemerkenswert ist, ist das Spektrum der Emotionen, die dieser am Ende sehr, sehr, sehr laute Konzertabend in der wie immer tonal völlig indisponierten Tonhalle in mir hervorruft. Der Moment, in der die Band den Tempo-Anker wirft und alle Emotionen auf Stopp setzt:
Dein Tod war angekündigt
Das Leben ging dir aus
Unwiederbringlich
Schlich es aus dir hinaus
Du lagst im KrankenzimmerTocotronic, „Unwiederbringlich“
Niemand hüpft und springt, wenn er vom Sterben singt. Ansonsten überraschen die Kopfnicker, ja es gibt Crowdsurfer, sogar zu langsamen Nummern. Es ist mein erstes Tocotronic-Konzert überhaupt, dabei bin ich seit fast 20 Jahren Fan und höre alles, was die so machen. Vielleicht zu spät, aber immerhin kann ich wieder etwas auf meiner bucket list abhaken.
Das ist auch etwas, das ich an der Band mag: Wenn man etwas besser auf Englisch sagen kann als auf Deutsch, nehmen sie die andere, coolere Sprache. Bei „Let There Be Rock“, der Hymne, die ich auf ewig mit dem ersten Film-Meisterwerk von Sebastian Schipper („Victoria“) verbinden werden: „Absolute Giganten“, eine deutsche späte Antwort auf George Lucas’ Teenie-Film und dieses ganze Genre voller Wehmut, Abschied und dem komischen Geschmack vom Erwachsenwerden.
Diese Momente gibt es in den Lyrics immer wieder. Tocotronic gehen dabei nicht die Worte aus, sondern wie die Rapper der Nuller und Zehner Jahre des 21. Jahrhunderts erweitern sie einfach ihren Sprachraum um Begriffe, die pointierter sind – und sich reimen. Tocotronic bringen die deutsche Sprache zum Klingen, und das weiß jeder, wie schwer das ist, der sein Geld schon mal mit dem Schreiben oder Sprechen von Texten verdient hat. Ihr Vokabular kommt dabei um den Nominalstil des Deutschen nicht herum.
Sexualität.
Selbstbefriedigung.
Kapitulation. Oho.
Sing das mal. Siehste, du wüsstest ohne die Lieder von Tocotronic nicht, wie.
Das andere sind die Melodien, die kurz vor dem Kunst-Kitsch von Blumfeld aufhören, und die sie manchmal als Popgruppe erscheinen lassen. Dabei beweisen die Zugaben mit mächtig wall of sound und Pose und Kunstnebel, dass sie sich eher als Rocker sehen. Wenn die Rolling Stones das im hohen Alter noch machen dürfen, dann die Ü40-Kollegen doch auch, oder? Frage für einen Freund.