Alanis Morissette beim Tollwood in München

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München / Musik
Foto: Pexels, eigene Illustration
Ich war bei Alanis Morissette beim Tollwood in München. Davon muss ich heute erzählen, vom Konzert, und wie ich darauf sehe, durch meine äußerst persönliche Brille.

Von allen Niederlagen ist die des gescheiterten Ironikers meine größte. Ich habe schon überlegt, das als Milestone in meine Twitter-Bio aufzunehmen, aber dann habe ich es doch gelassen.

This older version of me

würde das nicht mehr als zutreffend als Beschreibung meiner Person in 140 280 Zeichen oder weniger empfinden. Der Sarkasmus, der in meiner Ironie mitschwang, hat mich aufgefressen. Den wollte ich aus meinem Leben verbannen.

You live, you learn
You love, you learn
You Learn, Alanis Morissette

Alanis Morissette beim Tollwood in München

Alanis Morissette beim Tollwood in München – die muss ich sehen! Das habe ich im Winter entschieden, als ich auf den beginnenden Karten-Vorverkauf hingewiesen wurde. Songkick war’s. (Songkick scannt die Spotify-Bibliothek auf passende Künstler*innen.)

Isn’t it ironic?
Gleicher Titel, Alanis Morissette

…dass wir die Helden unserer Jugend oft viel später erst zu Gesicht bekommen? Alanis Morissette ist für mich so etwas. (Schuld ist meine damalige Geldknappheit, meine Knauserigkeit und meine Unwissenheit, wie toll Konzerte sein können. Nach Köln in die Kantine wäre es nur eine Sehnsuchtsfahrt von 100 Kilometern gewesen. Eine gute Freundin hat A. M. in München im Kunstpark gesehen. NEID!)

Künstlerin und Stimme der Generation X

Ihr 1995 erschienenes Album „Jagged Little Pill“ (das ich damals ihr zugeschrieben habe, aber eine Ko-Produktion als Autorin mit Musikproduzent Glen Ballard war) war für eine Generation stilprägend, also für mich. (Und natürlich tausende Besucher im tropisch-heißen Zelt auf dem Tollwood-Sommergelände im Olympiapark in München.) Ihr Album hat sich damals allein in Deutschland über eine Million Mal verkauft.)

Enough about me, let’s talk about you for a minute
Enough about you, let’s talk about life for a while
All I Really Want, Alanis Morissette

Aber genug über die anderen, mehr über mich.

Ich war 18, das Schulleben neigte sich dem Ende zu und das Leben noch keinem Sinn: Wie wohl fast alle Jungs in dem Alter musste ich mich finden. Und in meinem Ohr hatte ich diese Freundin, die alles schon herausgefunden hatte. Liebe, Selbst, Schmerz. Alles hat sie in Worte gefasst, mit Anfang 20.

If you weren’t so wise beyond your years I would’ve been able to control myself
Hands Clean, Alanis Morissette

(Ko-Autor Ballard war damals schon 40+, also in meinem heutigen Alter.) Eine Besucherin, die ich zufällig mit anhören konnte auf dem Weg zum Parkplatz, brachte das auf den einfachen Nenner:

Ich habe das damals als anrührend empfunden, aber nicht alles verstanden. Erst heute mit 40, wo ich das wieder höre, denke ich mir: Wow, das hat die alles mit 20 schon gewusst.

Amen, Schwester!

I’ve never felt this healthy before
I’ve never wanted something rational
I am aware now
I am aware now
Head over Feet, Alanis Morissette

Wenn wir älter werden, lassen wir die Dinge weg, die uns nicht gut tun (hoffentlich!) und umgeben und mit Menschen, die uns gut tun.

We’ll fast forward to a few years later
Hands Clean, Alanis Morissette

So habe ich meine Frau getroffen, und wenige Lieder drücken aus, was ich für sie empfinde – sie hat mich glücklich und gesund gemacht.

You complete me.
Jerry Maguire, nicht A. M.

Danke, Schatz*! (Echter Kosename der Redaktion bekannt.)

It’s like rain on your wedding day
Ironic, Alanis Morissette

Wir hatten Regen, Sturm, Sonne, Gewitter. Alles. An unserem Hochzeitstag.

Wie alle Rockkonzerte ist auch dieses von Alanis Morissette beim Tollwood in München eine Huldigung der Jugend. Wir sind, was wir mit 18 gehört haben. Bei mir ist das eine recht kurze Liste, den Sprung vom Beckenrand am tiefen Ende des Beckens in den großen Pool der Indiemusik habe ich erst später gemacht, beim Campusradio an der Uni. Aber Alanis ist definitiv auf der Liste. Wahrscheinlich auf Platz eins.

Die CD, damals hatten wir sowas noch, die CD war so alt wie ein Grundschüler. Dieses Album lief in Dauerschleife in der schwarzen Sony-Boombox. Wenn ich das Album als Platte gehabt hätte, hätte man wahrscheinlich bald durchschauen können, so oft lief das. Ihre Stimme, vom Säuseln über die tiefe Passagen bin hin zum Schreien, bei dem sie sich vom Mikrofon wegwindet, um Übersteuerungen zu vermeiden, die sprach zu mir. Nur mir.

Ich verstehe mittlerweile alle, die das damals für sehr nervtötend gehalten haben. Es gibt ja Menschen, die hohe Frauenstimmen als anstrengend empfinden. So ging es mir beim erneuten Reinhören in ihr Oeuvre auch.

„Davon eine ganze Stunde oder mehr?“
Ich

dachte ich mir, aber ich war nicht auf ihre Erscheinung vorbereitet. Die Stimme ist eins, die Texte natürlich zwei und ihre Ausstrahlung drei.

Die Reihenfolge ist beim Live-Erlebnis eine andere, Generationen von Groupies können das bezeugen. Aber auch wir sachlicheren Menschen fallen dem zum Opfer, oder geben uns der Ausstrahlung hin.

Cause the love that you gave that we made wasn’t able
To make it enough for you to be open wide, no
You Oughta Know, Glen Ballard/Alanis Morissette

Im Konzert gewesen, geweint.

Wir nennen das normalerweise Star-Power, weil wir kein besseres, beschreibendes Wort für dieses Charisma haben, dass die ganz Großen ihres Fachs umgibt, ob sie George Clooney, Angelina Jolie, Sting oder eben Alanis Morissette heißen. Glücklicherweise habe ich die alle schon mal live und im selben Raum erleben dürfen, und auch die deutschen Schauspieler und Sänger haben das. These: Ihr Glaube an sich selbst manifestiert sich auch in ihrer Erscheinung. Ob sie Veronica Ferres oder Robert Stadlober heißen. Manche Menschen leuchten einfach heller. Es umgibt sie ein Zauber. Egal, wie alt sie sind.

In meinem Kopf ist Alanis eine alte Freundin und Wegbegleiterin, die ich bis zu diesem Tage nur nie habe persönlich kennenlernen dürfen. So wie wir früher ICQ-Buddies und Mailinglisten-Admins hatten oder heute YouTuber und Instagram-Influencer*innen anhimmeln. Sie geben Rat, Orientierung.

And I’m here to remind you
Of the mess you left when you went away
It’s not fair to deny me
Glen Ballard, Alanis Morissette: You Oughta Know

Die schlechten Beziehungen, die uns verletzt haben, sie hat sie gehabt. Für uns. Und in Worte gefasst.

You cry, you learn
You Learn, Alanis Morissette

Und durch ihre Worte erleben wir sie in meinem neuen Licht, in einer anderen Perspektive. Wie Blitze schlugen die Einsichten ein bei mir, auch 2018 wieder. Bämm!

Bühnenpräsenz, und zwar überall auf der Bühne

And there I go jumping before the gunshot has gone off
All I Really Want, Alanis Morissette

Über ihre eigene Ungeduld hat sie natürlich auch gesungen, natürlich suche ich mir aus dem oft sich selbst spiegelnden Werk Bruchstücke zusammen, die meine Thesen und Gefühle stützen. Ich habe selten Bühnen-Performer gesehen, die so fidgety, also zappelig sind. Wenn Alanis Morissette beim Tollwood in München mal still steht am Mikrofonständer, suchen ihre Hände Halt. Sie wollen etwas zu tun haben. Sie ringen mit sich. Was sie finden? Mal ist es die andere Hand, dann die Ringe an der Hand, der Hosenbund, der Mikroständer.

Am wohlsten fühlt sie sich mit Gitarre, in einem der wenigen Soli, das sie spielt, geht sie auf. Sie ist eins mit der Musik, jammt mit ihrer Band, und zwar jedem der Männer. Mich hat das an den Film über die Doors erinnert, in dem Val Kilmer sich auch derart verausgabt. Das Leben eines Rockstars, es kennt die Handbremse nicht, so scheint es mir. Meistens tigert Morissette über die Bühne. Ein anderes Wort für ihre Art zu laufen habe ich nicht gefunden. Es sind dynamische, weite und breite Schritte. Sie macht das offenkundig öfter. Wenn ich ihr meinen Schrittzähler für die Dauer des Konzertes geliehen hätte, hätte ich einen neuen Schritterekord aufgestellt. Und fast die Hälfte der Schritte ist rückwärts. 16 braucht sie vom linken Bühnenende zum rechten, sie ist immer unterwegs. Kein Wunder, dass sie sich für bequeme High Boot-Sneaker entschieden hat.

Foto Alanis Morissette: Williams & Hirakawa

Foto Alanis Morissette: Williams & Hirakawa

Auf der Bühne strahlt die 44-Jährige auch ohne ihre Langhaarpracht von früher, die auch auf den Promobildern noch vorhanden ist, wie ein kleines Kind. Sie fühlt die Liebe, die ihr der vieltausendstimmige Chor gibt, und sie gibt sie mit Gesten zurück.

I’m the kindest soul with whom you’ve connected
Everything, Alanis Morissette

Dem Mann am Tonpult vonAlanis Morissette beim Tollwood in München gibt sie mindestens ebenso viele Zeichen. Meistens muss er sie raufregeln, weil ihre Stimme gegen die ihrer Musiker absäuft im breiigen Zeltmischmasch. Das Zenith hat für mich an diesem Abend seinen Platz als von der Akustik her schlechteste Location für Rockkonzerte in München an die Musik-Arena im Tollwood verloren. Ja, Festivals sind schwer zu mischen, aber ein bisschen mehr darf sein. Die erste Viertelstunde grenzte an unzumutbar.

(Dabei macht das Tollwood ansonsten viel richtig. Die Getränkepreise sind für einen Event kommod (Wasser 3 Euro, Pfandbecher, die man spülen kann), die Klos sauber und reichlich vorhanden.)

Danke, Alanis! #hach

I feel drunk, but I’m sober
Hand in my Pocket, Alanis Morissette

Foto Löffel: Source: pixabay.com
Foto Alanis Morissette: Williams & Hirakawa

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