Bluetooth-Ohrstecker, oder: die Irre aus der U-Bahn

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Bayern
Die Frau ist auf dem Weg zum Flaschensammeln. Das war mein erster Gedanke. Die U2, die mich an diesem Feierabend zum Auto brachte, fährt weiter zum Einkaufszentrum am Rande der Stadt. In Riem, wo früher Jets die Räder auf den Boden setzten, trifft sich heute nur noch das proletarische Jetset. Die Riem-Arcaden haben einen Lego-Store, das macht sie auch für mich anziehend.

Warum denke ich also, diese Frau, die da in der U-Bahn mir gegenüber sitzt, wolle Flaschen sammeln? Sie spricht mit sich. Nicht wirr, sondern mit einem offenbar roten Faden. Die innere Stimme muss gut organisiert sein, denke ich mir noch. Dann wende ich den Blick ab, schaue durch die dunklen Fenster auf die Tunnelwand, um mich nicht zu verraten – dass ich ihr Verhalten befremdlich finde.

Dann streicht die Frau, die ich auf 40-50 schätze, und die erstaunlich gut erhalten geblieben ist für eine Flaschensammlerin, sich die mittellangen Haare zurück. Und dann erspähe ich etwas an ihrem Ohr, was ein Bluetooth-Headset sein könnte.

Sie telefoniert!

Ach so.

Ich schäme mich.

Aber warum habe ich das nicht gleich erkannt? Was war so anders an ihrem Gespräch? Ab und zu nahm sie Augenkontakt mit den Passagieren in der U-Bahn auf, und da muss ich ihre Sätze darauf bezogen haben, die sie sprach. Dabei waren das nur Gleichzeitigkeiten von Dingen, die nicht zusammen gehört haben. Ich schäme mich noch einmal.

Auch dafür, dass ich sie belauscht habe, selbst beim passiven Wegsehen meinerseits.

Dies ist meine Entschuldigung. An eine Frau, deren Namen ich nicht kenne, aber die ein Telefon so benutzt hat, wie es vorgesehen war. Nicht, indem sie in das untere Hände hineinspricht, wären sie das Display sichtbar vor sich hält, wie es Mode gewesen ist. Nicht als laut plärrender Transistorradioersatz. Und auch nicht als Comic-Sans-What’s-App-Chat mit Chat-Hintergrundmuster. Und nicht mit dem Nachricht-gesendet-Ton von Samsung.

Nebenbemerkung Flaschensammlerin

Warum habe ich das mit Flaschensammlerin gedacht? Weil sie verwirrt sprach, und das Flaschensammeln ist in München die offen sichtbare Variante der Armut, die allgegenwärtig ist. Das Wohlstandsgefälle in der reichsten Stadt Deutschland ist riesig, und da das Betteln wohl hart verfolgt wird, sieht man weniger Bettler als in nahe gelegenen Großstädten (Nürnberg ist anders, und es liegt auch in Bayern – pardon, Franken). Flaschensammeln ist eine professionelle Disziplin. Sie tragen Handschuhe, sie kommen alle paar Minuten, und so gut wie sie Tüten packen, könnten sie mir auch mal beim Urlaubsgepäck helfen. Sie sind überall. Die Ameisen der Überflussgesellschaft, die die Kaffeebuden, die an allen stark frequentierten unterirdischen Bahnhöfen entstanden sind, konterkarieren. Wenn die Wegwerfbecher Pfand hätten, das wäre noch was.

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