Intensiv Leben

Familie
Symbolbild für Intensivpflege

Der Mensch kann sich an alles gewöhnen. Das ist eine bemerkenswerte Fähigkeit an unserer Spezies. Seit mehr als drei Wochen bin ich an jedem Tag auf der Intensivstation zu Besuch.

Du-du-du-du-duuu-du.

Pffff. Ffff. Ff. FF.

Tak, tak, tak.

Im Angehörigenseminar hatten sie uns gewarnt. „Es ist laut bei uns.“ Irgendwas ist immer. Jeder Patient wird von einer Vielzahl Maschinen versorgt. Mindestens ebenso viele Schläuche schlängeln sich ins Bett, unter der Bettdecke durch, in den Menschen rein. An guten Tagen fünf, an schlechten zehn. Etwas weniger Schläuche kommen raus.

Wirklich immer an sind die Displays. Jede Autowerkstatt wäre froh, wenn die Geräte so schnell eine Analyse zulassen würden. EKG, Sauerstoffsättigung, Blutdruck – das versteht der laienhafte Besucher noch. Es gibt noch viel mehr Kurven und Zahlen auf diesem kleinen Monitor. Niemand erklärt sie einem, kein Besucher fragt allzu genau nach.

Nicht immer kann der Besucher gleich rein in die Intensivstation. Man muss klingeln, und die Pfleger und Schwestern machen nur dann die Tür auf, wenn sie gerade Zeit dazu haben. Die Versorgung der Patienten geht vor. Zwischen dem Patienten und dem Besuch liegt keine Schleuse, kein Mundschutz. Nur ein Klingelkopf.

Zzzzzz. Pfff. Dann geht die automatische Tür auf.

Wenn die Tür erst mal geschlossen bleibt, packt dich irgendwann die Verzweiflung. Warum kann ich gerade nicht rein. Was machen sie nur da drin mit dem Patienten, zu dem du willst?

(Die Antworten sind meistens banal und nicht schlimm. Da wird das Zimmer geputzt, ein anderer Patient aus dem OP geholt, irgendwo sonst hat der Alarm angeschlagen.)

Die Zeit vor dem Besuch ist endlos. Die Sekunden streichen vorbei. Immer wieder betreten neue Mitarbeiter die Station. Schichtwechsel, Übergabe, es wird noch länger dauern. Die Zeit, die man sich für den Besuch genommen hat, eine Auszeit von der Arbeit, sie verstreicht mit Warten. Wie auf dem Amt, nur tausend Mal schlimmer.

Der gefürchtete Moment, einer von ihnen will ernsthaft reden, er kommt. Und er kommt genauso irreal wie im Kino. Der Mann im weißen Kittel kommt durch die Tür, zeigt kurz, nehmen sie doch Platz, und dann benutzt er weichgespülte Worte. Bis irgendwo das Wort mit dem rechten Haken kommt. Bevor du zu Boden sackst, baut er dich wieder auf. Das Gespräch selbst ist viel zu kurz, um es gleich zu realisieren. Das passiert erst nach dem Besuch. Dann, wenn keiner bei dir ist. Sonnenbrillen sind eine gute Erfindung.

Männer weinen heimlich.

Was beinahe neutral ist, ist der Geruch. Der typische Krankenhausgeruch fehlt fast völlig auf der Intensivstation. Ständig geht dieses Zisch-zisch des Desinfektionsmittelspenders. Die eigenen Hände natürlich auch.

Wie die Pfleger und Schwestern und Ärzte zusammenarbeiten, ist eine Lehre in Sachen Teamwork. Der eine spürt ganz klar, wenn der andere gerade Hilfe braucht. Die Putzkräfte wirbeln beinahe unsichtbar um sie herum und sorgen für eine blitzsaubere Umgebung, in der Mann und Frau gesund werden können. Der Geruch – nicht mal hier ist er. Sein Fehlen überrascht mich.

Die Patienten sind hier oftmals nicht sie selbst. Irgendwie fehlen sie hier auch als Menschen. Tief im Schlaf nach einer OP, bedingt durch starke Medikamente. Sie schrecken vor Schmerzen hoch, machen Dinge, an die sie sich hinterher nicht mehr erinnern können. Dafür wird minutiös Buch geführt. Die Patientenakte liegt immer auf einem Beistelltisch.

Wenn das in unser Leben eindringt, was wir nur aus der Fiktion kennen, verschieben sich Grenzen. Prioritäten werden gesetzt. Nur noch die ersten drei Punkte auf der mentalen Liste können erledigt werden. Und die Priorisierung fällt so leicht wie selten.

Beistehen im Krankenhaus. Die Familie beschützen. Alles andere zu seiner Zeit.

Schhhhhh. Schließt sich die Tür der Station. Bis morgen.